Gabriele Baumgartner

Wie betrachtet man als wissender Mensch eine Landschaft, die man als Kind und Jugendlicher selbst erlebt hat, mit ihren Ausblicken und Gegebenheiten aufgewachsen ist und die aber auch gleichzeitig so untrennbar mit einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte unseres Landes verbunden ist? Wie fühlt es sich an, wenn man die immer noch selben Häuser, Äcker und Straßen, die lehmigen Furchen der Nebenstraßen, die die Traktoren nach dem Regen in den Boden zogen, sieht, aber auch im selben Atemzug an die verzweifelten Flüchtlinge und die Täter denkt, die diesen Anblick zeitversetzt auch gesehen haben? Wie kann man im satten Gras liegen und in den Himmel zu den Wolken blicken, ohne dass der Gedanke an die Todesangst, völlige Erschöpfung und Verzweiflung der durch diese Landschaften gehetzten Menschen in einem keimt? Wie kann man mit dem Bewusstsein zurechtkommen, dass auch Menschen, die man in seiner Kindheit kannte, möglicherweise ebenfalls unter den Menschenjägern waren? Man ahnt es nicht, wer sich in welcher grausamen Form an dieser Menschenhatz beteiligte und wer einer der wenigen äußerst Mutigen war, die Flüchtlinge versteckten, ihnen Nahrung in die Verstecke brachte oder zur Flucht verholfen hat?

Der von den Nationalisten zynisch geprägte Begriff „Mühlviertler Hasenjagd“ bedeutet die gnadenlose Verfolgung von 419 sogenannten K-Häftlingen des Todesblocks 20 im KZ Mauthausen, die in der Nacht zum 2. Februar 1945, bei minus 8 Grad, die Flucht wagten. Einigen schafften aufgrund ihrer Unterernährung und körperlichen Erschöpfung nur wenige Schritte der Freiheit nach Überwindung der Mauer, starben im Schnee oder im Kugelhagel der sofort alarmierten Wache. Alle jene, denen nicht die Flucht in die Wälder gelang und die 75 im Block zurückgebliebenen Kranken, wurden sofort exekutiert. Vorerst gelang über 300 Menschen – überwiegend sowjetische Offiziere – die vorläufige Rettung.

Am Morgen rief die SS-Lagerleitung die sogenannte „Treibjagd“ aus, an der sich neben SS und SA, auch die Gendarmerie, Feuerwehr, Wehrmacht, der Volkssturm und die Hitler-Jugend beteiligte und auch die Zivilbevölkerung regen Anteil nahm. Das grausame Ziel dieser Jagd war eine Ermordung aller Geflüchteten und somit keine Gefangene und damit Überlebende in das KZ Mauthausen zurückzubringen. Am Stützpunkt in Ried in der Riedmark wurden pietätlos die Leichen übereinander gestapelt.

Der Bericht an das Reichssicherheitshauptamt spricht von 419 Geflüchteten im Raume Mauthausen, Gallneukirchen, Wartberg, Pregarten, Schwertberg und Perg, wobei 300 wieder aufgegriffen wurden, aber nur 57 davon „lebend“. Entsetzlicher weise ist nur von elf sowjetischen Offizieren bekannt, dass sie die Flucht und das drei Monate spätere Kriegsende von dieser Menschenjagd überlebten.

Und wie soll man als wissender Mensch damit umgehen?

Bild 1. Herwig Prammer

Herwig Prammer
Mein sehr persönliches Projekt „HASENJAGD“ verfolge und bearbeite ich inzwischen seit ungefähr 40 Jahren – nicht fotografisch, aber immer wieder im Geiste.
Als Kind und Jugendlicher habe ich vom Konzentrationslager Mauthausen – von dem ich nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen bin – und den Ausbrüchen im Jahr 1945 nach und nach erfahren, und es ist mir bis heute nicht möglich, die Tragweite dieses Wahnsinns zu erfassen.
Menschen, die ich gekannt habe, waren vielleicht involviert, ein für mich undenkbarer Gedanke.

Bild 2. Herwig Prammer

Jeder Mensch geht natürlich anders mit so etwas um, für mich ist es wie als Beteiligter den Schauplatz noch einmal besuchen und darüber reden – obwohl ich gar nicht dabei war und den Schauplatz 75 Jahre später besuche.

War ich vielleicht doch irgendwie dabei?

Mein Grossvater war irgendwie dabei – irgendwie, auf einer anderen Seite. Er ist in einem Lager der Nationalsozialisten 1944 in Südfrankreich ums Leben gekommen, als Bauer aus dem Mühlviertel, der „illegal“ ein Schwein gehalten hat – darüberhinaus ist mein Grossvater, so hat man mir berichtet, damals wohl nicht besonders linientreu gewesen, und hat anscheinend auch kein Hehl daraus gemacht. Ob ich stolz bin auf meinen Grossvater, habe ich mir mit meinen inzwischen 55 Jahren noch nicht einmal überlegt. Kennengelernt habe ich ihn ja nicht, nicht einmal meine Mutter kann sich noch an ihn erinnern, sie ist 1941 geboren worden.

Ich habe aber auch einige Menschen kennengelernt, die tatsächlich dabei waren.

Gefühlt sehr intensiv kennengelernt – möglicherweise habe ich auch gar nichts verstanden – habe ich z.B. einen älteren Herrn, mit dem ich vor einigen Jahren an einem der noch bestehenden Öfen der Krematoriumsanlage im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen ins Gespräch gekommen bin. Ich war damals wegen einer Fotoreportage für die Nachrichtenagentur REUTERS über die Mauthausen-Gedenkstätte dort. Der Herr schien recht guter Dinge zu sein. Erfahren habe ich von ihm u.a., dass er in den Jahren 1944 bis 1945 eine Etage höher, in den Küchenanlagen gearbeitet habe. Er habe grosses Glück gehabt, nicht die Arbeit hier unten im Krematorium verrichten zu müssen, und gerade eben habe er wieder darüber nachgedacht. Siebzehn Jahre sei er damals alt gewesen.

Ich habe gehört, was mir dieser Mann im Laufe von ein paar wenigen Stunden alles erzählt hat, was er dort gesehen und erlebt hat, aber erfassen habe ich den Inhalt nicht können.

Und gerade vor wenigen Tagen ist im Zug von Wien nach Linz ein alter Herr mir schräg gegenüber gesessen, er sprach ein wenig Deutsch. Dem Gespräch mit dem Zugschaffner habe ich entnehmen können, dass er nach Mauthausen wollte. Der Schaffner hatte ihm geraten, in St. Valentin auszusteigen, von dort käme er am kürzesten Weg nach Mauthausen. Aus irgend einem Grund hat der alte Herr es nicht geschafft, rechtzeitig auszusteigen, er hat dann mit mir in Linz den Zug verlassen, und ich habe ihm meine Hilfe angeboten.

Bild 3. Herwig Prammer

Ich habe aus seinen Erklärungen in recht guter englischer Sprache erfahren, dass er aus Polen gekommen sei, um das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen zu besuchen, er wäre bereits einmal dort gewesen, nämlich vor 76 Jahren, seither nicht. Sein Vater sei zu diesem Zeitpunkt in Gusen (im dortigen Aussenlager von Mauthausen) gewesen, hat der Herr gemeint.

Ich hatte einen beruflichen Termin, konnte den Herrn nicht begleiten in seine Vergangenheit, war dann später noch in Mauthausen, um mich nach ihm zu erkundigen. Getroffen habe ich ihn leider nicht mehr.

Es ist alles irgendwie immer noch da. Und es ist leider sehr präsent.

Da sind einerseits jene Menschen, die es tatsächlich erlebt haben und noch darüber berichten können, und da sind – wieder? – die anderen, die in Form von verbaler Gewalt oder auch in Form von sehr physischen Angriffen auf vermeintlich Fremde und Fremdes agitieren.


Da ich mich nicht nur im Rahmen von Malerei, Grafik und Film, sondern auch im Studium der Landschaftsökologie und Landschaftsplanung intensiv mit Landschaft auseinandergesetzt habe, will ich versuchen, mein Thema über visuelle Aspekte der Landschaft rund um Mauthausen zu erarbeiten.

Kann Landschaft Gedächtnisträger sein?

Ein inzwischen verstorbener Verwandter von mir hat sich intensiv mit Heimatkunde auseinandergesetzt. Er hat die Ursprünge der ersten Befestigungsanlagen im Mühl- und Waldviertel erforscht. Gefunden hat er die Spuren dieser Holzburgen mittels Wünschelrute, meist einem Teil aus Metall, und das unglaublich präzise. Er hat mit seinen Wünschelruten genau die Stellen ermitteln können, wo die Pfeiler von diesen einfachen Türmen irgendwo in den Wäldern auf Erhöhungen im Boden eingesetzt waren. Mein Verwandter, vollkommen der Wissenschaft und überhaupt nicht dem Aberglauben zugetan, hat immer behauptet, er wisse nicht, wie das funktioniere, aber es sei eine überraschend effiziente und präzise Methode, zu finden, wonach er suche.
Diese Methode ist ja an und für sich nichts überraschend Neues, die meisten archäologischen Stätten im freien Feld werden inzwischen mittels Archäometrie, Bioprospektion und geophysikalische Prospektion entdeckt und vermessen. D.h., eine Bodenflächen wird mit sogenannten Magnetometern auf magnetische Anomalien, kleinstrukturellen Abweichungen im Magnetfeld untersucht, auf Basis derer man die Grundrisse früherer Bauwerke in der Landschaft identifizieren kann, auch wenn dort keine physischen Hinweise mehr sichtbar sind – nur dass mein Verwandter das nicht mit elektronischen Geräten bewerkstelligt hat, sondern ausschliesslich mit seiner körpereigenen Sensorik.

Vielleicht ist es demnach ja möglich, dass sich noch mehr als längst vergangene Bauwerke in eine Landschaft einprägen kann wie Erinnerungen in ein Hirn? Wäre es denkbar, dass auch seelische Traumata, die an bestimmten Plätzen passiert sind, dort ihre Spuren hinterlassen haben? Ist es möglich, derartiges sichtbar zu machen?

Nach einem ersten praktischen Vorfühlen letzten Winter möchte ich mich mit dieser Arbeit obiger und verschiedener anderer damit verbundener Fragen widmen. Es wird voraussichtlich eine Auseinandersetzung über weitere mehrere Jahre werden.